Ungleichheit und Machtverhältnisse verstehen

Einleitung

Es ist schwer, einen Anfang zu finden, wenn das Thema zu groß ist für eine Überschrift. Wenn es so viele Ebenen berührt, dass kein einzelner Artikel ausreichen kann. Und trotzdem beginne ich – mit einem leisen Satz. Denn ich schreibe nicht, weil ich alles weiß. Ich schreibe, weil ich Fragen habe. Weil ich mich oft wundere, warum es in dieser Welt so vielen Menschen so schwer gemacht wird. Und weil ich glaube, dass wir andere Wege finden können – wenn wir beginnen, anders zu erzählen. Diese Artikelserie heißt „Die Kleinen“, und sie soll nicht aus Mitleid geboren sein, sondern aus Verbundenheit. Es geht um Menschen mit wenig Geld, wenig Einfluss, wenig Schutz. Menschen, die oft vergessen werden, obwohl sie uns alle betreffen. Es geht auch um eine kleine, sehr einflussreiche Elite, die viel entscheidet, ohne gesehen zu werden. Und es geht vor allem um Strukturen, die wir oft als gegeben hinnehmen, obwohl sie menschengemacht sind. Es geht auch um die kleinen Prozente die viel verändern und diese Welt steuern und lenken.

Worte verändern nicht alles. Aber sie können anfangen, etwas zu bewegen. Und das ist gerade mein kleiner Teil.

Ich bin kein Lautsprecher. Ich bin kein Aktivist mit Megaphon oder jemand, der mühelos auf Bühnen steht. Ich bin eher still. Vielleicht auch wie du. Jemand, der nachts nachdenkt, statt zu schlafen. Jemand, der manchmal lieber zuhört als zu reden. Und doch bin ich hier – und schreibe. Weil ich gelernt habe, dass es manchmal genau diese Stimmen braucht: Die leisen, die zögernden, die nicht gleich alles besser wissen, aber sehr genau fühlen, wenn etwas falsch läuft.

  • Warum mir dieses Thema am Herzen liegt - Weil ich es nicht mehr ausblenden kann. Weil ich täglich sehe, wie sich das Netz aus Ungleichheit, Schuldumkehr und stummen Systemen über das Leben von Menschen legt, die nichts falsch gemacht haben. Weil mir auffällt, wie oft die Schwächsten verantwortlich gemacht werden – für Krisen, die sie weder verursacht haben noch lösen können. Und weil ich glaube, dass genau darin unsere größte gesellschaftliche Lüge liegt. Ich habe den Wunsch, mit dir – mit euch – gemeinsam zu schauen: Was läuft hier eigentlich ab? Warum erzählen wir die Geschichten so, wie wir sie erzählen? Und was wäre, wenn wir sie anders erzählen würden?
  • Warum wir es nicht in einem Artikel klären können - Weil Gesellschaft kein Monolith ist. Sie ist lebendig. Widersprüchlich. Und zutiefst persönlich. Armut ist nicht nur ein Kontostand. Macht ist nicht nur ein Titel. Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Bildung, Wohnung – all das spielt zusammen. Es gibt nicht „die einen Kleinen“ und „die anderen Großen“. Es gibt Geschichten. Brüche. Schicksale. Entscheidungen. Und Strukturen, die all das formen. Deshalb wird diese Serie viele Perspektiven zeigen. Sie wird Daten und Fakten bringen – aber auch Gefühle. Sie wird Zusammenhänge suchen, ohne sie zu glätten. Und sie wird immer wieder fragen: Was können wir tun? Gemeinsam, nicht gegeneinander.
  • Warum ich an die Veränderung glaube - Weil ich weiß, dass ich nicht allein bin. Auch wenn ich oft das Gefühl habe, dass wir, die so empfinden, verstreut und vereinzelt sind. Ich glaube, da draußen gibt es viele Menschen, die leise verzweifelt sind über den Zustand der Welt, aber ihre Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Menschen, die auch nicht jeden Tag perfekt handeln, aber trotzdem anders denken. Und die sich manchmal fragen, ob sie die Einzigen sind. Ihr seid nicht allein. Wir müssen nicht radikal sein, um radikale Fragen zu stellen. Wir müssen nicht alles umstürzen, um Wandel möglich zu machen. Aber wir müssen miteinander ins Gespräch kommen – über Armut, Ungleichheit, Macht, Verantwortung. Und über uns selbst.
  • Was diese Serie sein soll - Ein Anfang. Eine Einladung. Ein Raum. Für Gedanken, die sonst keinen Platz bekommen. Für Menschen, die oft übersehen werden. Für die Frage, wie wir leben wollen – und wie wir es gerechter machen könnten. Vielleicht wird daraus nicht die eine große Lösung entstehen. Aber vielleicht entstehen viele kleine Ideen. Und wer weiß – vielleicht ist das genau der Anfang, den wir brauchen. Ich bin bereit, meinen Teil beizutragen – auch wenn es nur Worte sind. Vielleicht findest du dich darin wieder. Vielleicht willst du irgendwann mit mir schreiben, sprechen, handeln. Dann weiß ich: Ich habe das Richtige getan. „Die Kleinen“ beginnt heute. Nicht mit einem Urteil. Sondern mit einem offenen Herzen und dem Wunsch, etwas zu bewegen.

Danke, dass du hier bist.

Ungleichheit

Ein paar Zahlen genügen, um die Dimension zu erfassen: Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung erzielen heute 52 % des weltweiten Einkommens, während die ärmere Hälfte der Menschheit nur 8 % davon erhält. Beim Vermögen ist die Konzentration noch extremer – die ärmsten 50 % besitzen gerade einmal 2 % des globalen Vermögens, während die obersten 10 % ganze 76 % des Weltvermögens kontrollieren. Anders ausgedrückt: Eine durchschnittlicher Erwachsene*r aus den reichsten 10 % verfügt jährlich über etwa 87.200 € Einkommen, während jemand aus der unteren Hälfte nur rund 2.800 € im Jahr zum Leben hat. Diese Diskrepanz verdeutlicht, wie ungleich Ressourcen verteilt sind.

Obwohl Europa im globalen Vergleich die geringsten Ungleichheiten aufweist, ist auch hier das Gefälle beachtlich. In Europa entfallen etwa 36 % des Einkommens auf das oberste Zehntel – im Nahen Osten sind es sogar 58 %. Zwischen diesen Extremen liegen Regionen wie Ostasien (≈43 %) und Lateinamerika (≈55 %). Ungleichheit hat also weltweit viele Gesichter. Sie zeigt sich sowohl zwischen Ländern – etwa im Gefälle zwischen reichen Industrienationen und ärmeren Regionen – als auch innerhalb von Gesellschaften, wo ein kleiner reicher Bevölkerungsteil oft ein Vielfaches dessen besitzt, was die Mehrheit jemals haben wird. Die letzten Jahrzehnte haben global teils Fortschritte gebracht (etwa die Einkommenszuwächse in China und Indien, wodurch Millionen aus extremer Armut kamen). Gleichzeitig sind innerstaatliche Disparitäten vielerorts gewachsen: Sehr Vermögende konnten ihr Kapital rasant vermehren, während die Einkommen der kleinen Leute oft stagnierten.

Besonders drastisch sichtbar wird die Schere am oberen Ende: Seit 2020 gingen rund 63 % des neu entstandenen weltweiten Vermögenszuwachses an das reichste 1 % der Bevölkerung. Die Covid-Pandemie und die darauffolgenden Krisen haben diese Entwicklung verstärkt – erstmals seit 25 Jahren nehmen extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig zu. Während Milliardär*innen ihre Vermögen teils in kürzester Zeit verdoppelten, kämpfen weltweit rund 828 Millionen Menschen mit Hunger. Diese polarisierten Trends sind kein Naturgesetz, sondern Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse. Sie bilden den Nährboden für das Thema unserer Artikelserie „Die Kleinen“: Wir richten den Blick auf jene, die von dieser Ungleichheit am härtesten getroffen werden – und auf die Strukturen, die dahinterstehen.

Klimagerechtigkeit und soziale Ungleichheit

Ungleichheit ist nicht nur ökonomisch spürbar, sondern auch ökologisch. Ein oft übersehener Aspekt ist die Klimagerechtigkeit: Die Verteilung von Verursachung und Folgen der Klimakrise ist zutiefst ungerecht. Die Top 10 % der Weltbevölkerung sind für fast die Hälfte (≈50 %) aller Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, während die ärmere Hälfte der Menschheit nur rund 12 % der Emissionen verursacht. Umgekehrt trifft die Folgen der Erderhitzung – Extremwetter, Ernteausfälle, Überschwemmungen – zuerst und am härtesten diejenigen, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Ein Beispiel: In reichen Ländern stoßen die ärmsten 50 % pro Kopf bereits so wenig CO₂ aus, dass sie nahe an den Klimazielen für 2030 liegen; im Gegensatz dazu bläst das reichste Zehntel weit überdurchschnittliche Mengen in die Atmosphäre. Klimaschutzpolitik hat bisher dennoch oft die Falschen belastet – etwa regressive CO₂-Steuern, die für Haushalte mit geringem Einkommen relativ mehr ins Gewicht fallen, während die Luxus-Emissionen der Reichsten (etwa durch häufiges Fliegen oder große Wohnflächen) wenig angetastet bleiben. Für echte Klimagerechtigkeit müssen wir also die soziale Frage mitdenken: Ein „grüner“ Wandel kann nur gelingen, wenn die Lasten fair verteilt werden und die, „die oben“ am meisten Ressourcen verbrauchen, ihren angemessenen Beitrag leisten. Dies ist ein zentraler Punkt, den „die Kleinen“ – ob in Wien oder weltweit – einfordern: Klimaschutz darf nicht zulasten der sozial Schwächeren gehen.

Entwicklung der Ungleichheit in Europa und Österreich

Wie sieht die Situation nun in unserer Nähe aus? Obwohl Europa im Durchschnitt egalitärer ist als andere Weltregionen, sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich auch hier beträchtlich und teils im Wandel. In der EU ist über Jahrzehnte hinweg die Armut leicht gesunken, doch innerhalb vieler Länder hat die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen zugenommen. Austeritätspolitiken nach der Finanzkrise 2008, Deregulierung des Arbeitsmarktes und ungleiche Vermögenszuwächse haben dazu beigetragen, dass auch in wohlhabenden EU-Staaten die oberen Prozente unverhältnismäßig profitiert haben.

Österreich wird oft als Land mit stabilem Sozialstaat gesehen. Doch gerade bei der Vermögensverteilung zeigt sich eine krasse Schieflage: Die reichsten 5 % der österreichischen Haushalte besitzen über die Hälfte (53,5 %) des gesamten Privatvermögens, während die ärmsten 50 % nur 3,5 % davon halten. Diese Konzentration gehört zu den höchsten in ganz Europa – in der Eurozone liegt Österreich laut aktueller EZB-Daten an zweiter Stelle hinter Lettland. Anders formuliert: Das oberste 1 % hat in Österreich fast ein Viertel des Vermögens auf sich vereint, während die untere Hälfte zusammen keine 4 % besitzt. Ein so extremes Gefälle war lange unterschätzt und wurde erst durch neue Erhebungen der Nationalbank (HFCS) sichtbar. Der Vermögens-Gini liegt hierzulande bei etwa 0,73 – was eine sehr hohe Ungleichheit signalisiert. Österreich ist also kein Land der breiten Mittelschicht beim Besitz, sondern eines, in dem wenige „oben“ sehr viel und viele „unten“ sehr wenig haben.

Bei den Einkommen ist die Verteilung weniger ungleich als beim Vermögen, aber auch hier existiert ein beachtliches Gefälle. Steuerliche Umverteilung und Sozialtransfers (Pensio­nen, Arbeitslosengeld, Familienbeihilfen etc.) glätten die Einkommensungleichheit zwar spürbar; ohne diese Zahlungen wäre die Armutsquote deutlich höher. Dennoch stagnieren niedrige und mittlere Realeinkommen seit Jahren, während Top-Gehälter und Unternehmensgewinne steigen. Die Armutsgefährdungsquote lag in Österreich zuletzt bei etwa 16,9 % der Bevölkerung – das entspricht rund 1,5 Millionen Menschen, die mit ihrem Einkommen unter der Armutsschwelle leben. In Krisenzeiten schnellte diese Rate zeitweise bis auf 17–18 % hoch, bevor Hilfspakete das Schlimmste abfederten. Hinter der Statistik stehen Einzelschicksale: Alleinerziehende Mütter, Mindestpensionist*innen, Menschen, die trotz Vollzeitjob kaum über die Runden kommen – sie alle zählen zu den „Kleinen“, deren Lage wir beleuchten wollen.

Wien, als Großstadt und sozialpolitischer Sonderfall, verdient einen speziellen Blick. Die Bundeshauptstadt weist traditionell sowohl höhere Lebenskosten als auch einen überdurchschnittlichen Anteil sozial benachteiligter Gruppen auf. Hier konzentrieren sich viele Armutsbetroffene – etwa Migrantinnen, Arbeitslose oder Alleinerziehende – was dazu führt, dass Wien eine über dem Österreich-Schnitt liegende Armutsgefährdungsquote aufweist. Gleichzeitig hat Wien historisch eigene Wege beschritten, um Ungleichheit zu mildern: Der kommunale Wohnbau (Gemeindebauten) und geförderte Wohnungen stellen bis heute fast die Hälfte des Wohnungsbestands, was vielen Menschen leistbaren Wohnraum sichert und Mietpreise dämpft. Dieses „Wiener Modell“ gilt international als Vorzeigebeispiel dafür, wie man Wohnungsnot entgegenwirken kann. Dennoch spüren auch Wienerinnen zunehmend den Druck eines angespannten Wohnungsmarkts. Private Mieten sind in den letzten Jahren explodiert – seit der Finanzkrise 2008 und verstärkt durch jüngste Teuerungen stiegen die Mieten weit stärker als die Löhne. Nach dem pandemiebedingten Kündigungsschutz nehmen Zwangsräumungen (Delogierungen) wieder deutlich zu. Wer heute mit niedrigem Einkommen in Wien eine Wohnung sucht, steht oft vor einem nahezu unlösbaren Problem – trotz des großen sozialen Wohnbauangebots. Wohnen ist damit zu einem zentralen sozialen Spannungsfeld geworden: Während sich gutverdienende Eliten luxuriöse Eigentumswohnungen leisten (Wien erlebt einen Boom an hochpreisigen Neubauten), kämpfen „die Kleinen“ mit steigenden Mieten, langen Wartelisten für günstige Wohnungen und der Angst vor Verdrängung aus ihren Grätzeln.

Auch auf dem Arbeitsmarkt zeigen sich Trends, die strukturelle Ungleichheit in Österreich verschärfen. Zwar ist die offizielle Arbeitslosigkeit relativ niedrig, doch viele Beschäftigte sind prekär angestellt: befristete Verträge, geringfügige Jobs, Scheinselbständigkeit oder unsichere Gig-Economy-Tätigkeiten. Working Poor – also Erwerbstätige, die trotz Job armutsgefährdet sind – sind keine Randerscheinung mehr. Bereits 2017 wurde geschätzt, dass in Österreich rund 250.000 erwerbstätige Menschen armutsgefährdet sind. Diese „Neue Armut“ betrifft oft Menschen mitten in der Gesellschaft, die arbeiten und dennoch nicht genug zum Leben haben. Gründe dafür sind Niedriglöhne in bestimmten Branchen, Teilzeitfallen (insbesondere viele Frauen stecken in Teilzeitjobs mit geringem Einkommen) und steigende Lebenshaltungskosten. Die soziale Sicherheit – also das Netz aus Versicherungen, Pensionen und Beihilfen – fängt vieles auf, gerät aber auch unter Druck: Politische Debatten kreisen um Pensionsreformen, um Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems oder um Zumutbarkeiten für Arbeitslose. Hier zeigt sich: Der gesellschaftliche Umgang mit „den Kleinen“ ist immer auch ein Gradmesser dafür, welche Werte in einer Gemeinschaft gelten.

Narrativ der Schuldumkehr: Wenn die Schwächsten verantwortlich gemacht werden

Angesichts dieser Fakten drängt sich die Frage auf: Warum ändert sich nicht mehr? Eine Antwort liegt im Narrativ der Schuldumkehr, das tief in unseren Gesellschaften verwurzelt ist. Darunter verstehen wir die Tendenz, die Verantwortung für Armut und Ungleichheit den Betroffenen selbst zuzuschieben – getreu dem zynischen Motto: „Die Armen sind selbst schuld an ihrer Misere.“ Dieses Narrativ hat historische Wurzeln. Schon im 19. Jahrhundert unterschied man zwischen „würdig Armen“ und „unwürdig Armen“; wer arm war, galt schnell als faul oder moralisch minderwertig. Solche Denkmuster haben bis heute überlebt. Sie zeigen sich in Stammtischparolen, in Boulevard-Schlagzeilen und mitunter in politischen Reden.

Schuldumkehr bedeutet, die Ursachen struktureller Probleme zu individualisieren. Arbeitslose hätten sich „nicht genug bemüht“. Obdachlose seien selber verantwortlich für ihre Lage. Sozialhilfebezieher*innen wird unterstellt, sie würden es sich in der „Hängematte“ gemütlich machen. Diese Erzählungen lenken von den eigentlichen Verhältnissen ab – nämlich davon, dass Strukturen, Machtungleichgewichte und politische Entscheidungen maßgeblich bestimmen, wer welche Chancen im Leben hat. Wenn etwa aufgrund von Standortwettbewerb und Steuerpolitik Milliardengewinne quasi unversteuert bleiben, während beim Arbeitslosengeld gespart wird, liegt das Problem nicht bei individuellen Versäumnissen der Arbeitssuchenden, sondern im System. Trotzdem hält sich das Bild vom „selbstverschuldeten Scheitern“ hartnäckig.

Aktuell erleben wir in vielen Ländern eine Renaissance solcher umgekehrten Schuldzuweisungen. Während der Pandemie gab es z.B. Stimmen, die behaupteten, die wirtschaftlich Schwachen müssten sich „nur flexibler anpassen“. Wenn über Langzeitarbeitslose gesprochen wird, fallen rasch Worte wie „Sozialschmarotzer“ oder „Arbeitsunwillige“. Dabei zeigen Studien, dass die allermeisten Arbeitslosen durchaus arbeiten wollen – Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen meist mit großem psychischen Stress verbunden und kein erstrebenswerter Dauerzustand. Dennoch glauben Umfragen zufolge beträchtliche Teile der Bevölkerung an das Klischee vom „faulen Arbeitslosen“. Dieser Glaube speist sich aus Einzelfällen und medialen Zerrbildern: Natürlich gibt es Missbrauch im Sozialsystem (dazu später mehr), aber er ist die Ausnahme, nicht die Regel. Doch das Narrativ verschiebt den Fokus: Weg von der Frage, welche strukturellen Barrieren Menschen am Aufstieg hindern – hin zur Unterstellung, es fehle schlicht an Eigeninitiative oder „Leistungswillen“.

Historisch betrachtet dient die Schuldumkehr oft dazu, bestehende Machtverhältnisse zu rechtfertigen. Wenn „die da unten“ angeblich nur härter arbeiten oder sich besser benehmen müssten, um erfolgreich zu sein, dann erscheint keine grundsätzliche Änderung nötig – die Verantwortung wird auf die Individuen abgewälzt. So konnten schon im viktorianischen England wie auch im Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte soziale Probleme als persönliches Versagen umgedeutet werden. Für diejenigen „oben“ hat dies einen angenehmen Nebeneffekt: Die Systemfrage stellt sich nicht, Privilegien bleiben unangetastet.

In der Einleitung unserer Serie wollen wir diese verkehrten Narrative bewusst machen. Denn um strukturelle Ungleichheit zu bekämpfen, müssen wir zunächst die Erzählungen entlarven, die sie legitimieren. Oft sind es gerade die kleinen, einflussreichen Eliten – politische Strippenzieher*innen, Lobbygruppen, milliardenschwere Meinungsmacher –, die solche Geschichten in Umlauf bringen, um von ihrem Anteil an der Misere abzulenken. Damit sind wir beim nächsten Punkt.

Die Macht der Wenigen: Eliten, Lobbyismus und wirtschaftspolitische Entscheidungen

Während „die Kleinen“ in der öffentlichen Debatte häufig an den Pranger gestellt werden, bleiben die eigentlich Einflussreichen gerne im Hintergrund. Doch die wachsende Kluft zwischen Oben und Unten ist kein Zufall, sondern spiegelt auch die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft wider. Eine kleine Elite aus Superreichen, Top-Managerinnen und Lobbyistinnen verfügt über unverhältnismäßigen Einfluss auf Politik und Wirtschaft. Sie ziehen – oft unsichtbar für die breite Öffentlichkeit – an entscheidenden Fäden.

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, wie konzentriert ökonomische Macht heute ist. Das oberste 1 % der Österreicher besitzt rund ein Viertel des Vermögens, global gesehen vereint es sogar über ein Drittel des gesamten Wohlstands auf sich. Diese Vermögenselite verfügt nicht nur über Geld, sondern auch über Netzwerke und Zugang zu Entscheidungsträgern. Sei es durch Parteienfinanzierung, persönliche Kontakte oder gut finanzierte Think-Tanks – politische Weichenstellungen werden maßgeblich von den Interessen dieser Gruppe beeinflusst. Beispiele dafür sind Steuergesetze, die es Konzernen und Reichen ermöglichen, Schlupflöcher und Steueroasen zu nutzen. Während eine Task-Force in Österreich Sozialmissbrauch von 25 Millionen € aufdeckt, gehen dem Staat jedes Jahr geschätzte 2 Milliarden € durch Steuerhinterziehung und legale Steuertricks verloren. Das Verhältnis ist augenfällig: Der finanzielle Schaden, den ein paar große Steuerbetrüger und Konzerne verursachen, übersteigt bei weitem das, was durch Sozialleistungsbetrug angerichtet wird. Dennoch erfahren wir in den Medien weit häufiger von „erschlichenen Mindestsicherungen“ als von den stillen Offshore-Konten der oberen Zehntausend.

Lobbyismus ist ein weiteres Werkzeug der „kleinen Eliten“. In Brüssel, Wien oder Washington sind ganze Industrieverbände damit beschäftigt, Gesetze in ihrem Sinne zu formen – oft zulasten der Allgemeinheit. Ob es um das Aufweichen von Arbeitsrechten, das Verzögern konsequenter Klimaschutzmaßnahmen oder das Verhindern von Vermögenssteuern geht: In all diesen Bereichen setzen finanzstarke Akteure ihre Interessen durch. Die Folgen tragen „die Kleinen“: Arbeitnehmerinnen, die um faire Löhne gebracht werden; Mieterinnen, die mangels Mietendeckel immer höhere Anteile ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen; künftige Generationen, deren Umwelt zerstört wird, weil die Lobby der fossilen Industrie klimaschädliche Subventionen verteidigt.

Kurzum, es entsteht ein Teufelskreis: Reichtum kauft politischen Einfluss, und dieser Einfluss wird genutzt, um Regeln so zu gestalten, dass noch mehr Reichtum nach oben fließt. Oxfam hat dieses Phänomen treffend als „Survival of the Richest“ bezeichnet – das Überleben (und Gedeihen) der Reichsten, oft auf Kosten der Ärmsten. Dazu passt die Beobachtung, dass seit den 1980ern vielerorts eine Politik verfolgt wurde, die „Trickle-down“-Verheißungen folgte: Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögende, Deregulierung der Märkte, Schwächung von Gewerkschaften. Versprochen wurde, der Wohlstand würde schon „nach unten durchsickern“. Die Realität sieht anders aus: Unten kamen oft nur Brosamen an, während oben die Kuchenstücke immer größer wurden. Der Ökonom Thomas Piketty zeigte, dass ohne korrigierende Eingriffe (wie hohe Steuern auf Spitzenverdienste, Erbschaften etc. in der Nachkriegszeit) die natürliche Tendenz der Kapitalakkumulation zu einer immer stärkeren Konzentration führt. Genau das erleben wir wieder.

Das bedeutet nicht, dass Eliten per se „böse“ sind – viele Philanthrop*innen und verantwortungsbewusste Unternehmer gibt es durchaus. Entscheidend ist aber zu erkennen, dass strukturelle Ungleichheit ein Machtproblem ist. „Die Kleinen“ haben in diesen Machtfragen oft keine Stimme. Wer etwa am Existenzminimum lebt, verfügt kaum über Lobbyvertretung in der Politik. Deshalb ist es umso wichtiger, ihre Perspektiven sichtbar zu machen und Machtfragen offen anzusprechen: Wer entscheidet, wohin die gesellschaftliche Reise geht? Wer sitzt am Verhandlungstisch – und wer steht draußen vor der Tür?

Wer sind „die Kleinen“? – Die vielen Gesichter der Benachteiligung

Wenn wir von „den Kleinen“ sprechen, meinen wir all jene Menschen, die im Gefüge der Macht- und Vermögensverteilung unten stehen. Das ist natürlich eine sehr heterogene Gruppe. Armut und Prekarität haben viele Gesichter. Hier einige der wichtigsten Gruppen, die in unserer Serie beleuchtet werden sollen:

  • Armutsgefährdete Menschen: Das sind jene ~17 % der Bevölkerung Österreichs, deren Einkommen unter der Armutsgrenze liegt. Darunter fallen z.B. Bezieherinnen der Sozialhilfe (ehem. Mindestsicherung) oder Niedrigpensionistinnen. Ihr Budget reicht oft kaum für grundlegende Bedürfnisse, ungeplante Ausgaben (eine kaputte Waschmaschine, Zahnbehandlung etc.) werden zur unüberwindbaren Hürde.
  • Alleinerziehende Elternteile: Insbesondere Alleinerzieherinnen (überwiegend Frauen) sind massiv betroffen – 36 % von ihnen gelten als armutsgefährdet. Alleinverantwortung für Kinder, Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Job und Betreuung, und oft ausbleibende Unterhaltszahlungen führen dazu, dass diese Familienform ein sehr hohes Armutsrisiko birgt. Trotz leichtem Rückgang nach pandemiebedingten Spitzen bleibt die Lage prekär.
  • Prekär Beschäftigte: Menschen mit unsicheren Arbeitsverhältnissen – befristete Verträge, Leiharbeit, Teilzeit unter der Armutsgrenze, Solo-Selbständige ohne Absicherung. Sie alle verbindet, dass ein sicherer Planungshorizont fehlt. Viele Prekäre sind „Working Poor“, die trotz voller Berufstätigkeit arm bleiben. Gerade Junge in Einstiegjobs und gering Qualifizierte, aber auch freie Kulturschaffende oder Saisonkräfte fallen in diese Kategorie.
  • Wohnungssuchende und Wohnungslose: Die Mieten steigen, leistbarer Wohnraum ist knapp. In Städten wie Wien kommen zwar jedes Jahr neue Sozialwohnungen hinzu, dennoch suchen Tausende verzweifelt nach einer dauerhaft bezahlbaren Wohnung. Obdach- und Wohnungslosigkeit ist die sichtbarste Spitze dieses Eisbergs – sie betrifft nicht nur chronisch Randständige, sondern immer öfter auch Menschen, die durch Schicksalsschläge (Kündigung, Scheidung, Krankheit) plötzlich auf der Straße stehen. Hilfsorganisationen schlagen Alarm, dass selbst Notquartiere überfüllt sind. Wer heutzutage „keine reichen Eltern hat“, tut sich schwer, am Immobilienmarkt Fuß zu fassen.
  • Migranten und Geflüchtete: Viele Zugewanderte zählen ebenfalls zu „den Kleinen“, da sie häufiger in schlecht bezahlten Jobs arbeiten und Diskriminierung erfahren. Doch auch hier lohnt ein differenzierter Blick: Die meisten Migrant*innen in Österreich sind gut in den Arbeitsmarkt integriert – ihre Erwerbsquote und Arbeitswilligkeit ist vergleichbar mit jener der Einheimischen. Allerdings sind sie häufiger in prekären Jobs und haben schlechtere Wohnverhältnisse. Ein erheblicher Teil der „kleinen Leute“ hat Migrationshintergrund, was auch mit strukturellen Hürden (Sprache, Anerkennung von Abschlüssen, diskriminierende Zugänge) zusammenhängt.
  • Kinderreiche Familien: Haushalte mit vielen Kindern tragen ein erhöhtes Armutsrisiko. Besonders wenn nur ein Elternteil verdient, geraten Familien ab 3 Kindern finanziell oft in Bedrängnis. Hohe Wohn- und Energiekosten treffen Großfamilien überproportional. In der Statistik gelten Familien mit 3+ Kindern deutlich häufiger als arm oder depriviert.
  • Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten: Sie stoßen oft auf Barrieren am Arbeitsmarkt, haben zusätzliche Kosten (Therapien, Hilfsmittel) und sind dadurch überrepräsentiert in unteren Einkommensschichten. Die Armutsgefährdung ist bei Menschen mit Beeinträchtigungen erhöht, auch weil Teilhabeleistungen lückenhaft sein können.
  • Senior*innen in Armut: Obwohl das österreichische Pensionssystem viele vor Altersarmut bewahrt, gibt es doch Gruppen – etwa ältere Frauen mit nur minimaler Eigenpension oder Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien – die im Alter kaum das Nötigste haben. Sie sind oft auf Ausgleichszulagen angewiesen und gehören ebenfalls zu den „Kleinen“, die gesellschaftlich wenig Lobby haben.

Diese Aufzählung ist nicht vollständig, gibt aber einen Eindruck: „Die Kleinen“ sind keine kleine Gruppe. Es handelt sich um Millionen von Menschen allein in Österreich, weltweit um Abermilliarden. Ihre Lebensrealitäten unterscheiden sich, doch sie eint eine gewisse Ohnmacht gegenüber den „großen“ Kräften – seien es Marktkräfte, politische Entscheidungen oder Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft.

Wichtig ist auch zu betonen, dass Kategorien sich überschneiden können: Eine geflüchtete Alleinerzieherin etwa trägt gleich mehrere Risikofaktoren und Hürden. Genau solche Überschneidungen („Intersektionalitäten“) werden wir in den kommenden Artikeln beleuchten, um zu verstehen, wie etwa Herkunft, Geschlecht und sozialer Status zusammenspielen.

Mythen und Wirklichkeit: Vorurteile gegenüber den „Kleinen“

Rund um Armut und soziale Leistungen kursieren viele gesellschaftliche Mythen. Diese werden oft von gewissen Medien oder politischen Akteuren befeuert, um Stimmung zu machen. Im Sinne einer faktenbasierten Debatte wollen wir einige der gängigsten Vorurteile aufgreifen und ihnen belegte Fakten entgegensetzen:

  1. Mythos: „Sozialmissbrauch ist ein Massenphänomen.“
    Behauptung: Viele Leistungsbezieher betrügen den Staat; das Sozialsystem wird vor allem von Faulpelzen und „Abzockern“ ausgenutzt.
    Fakt: Missbrauch kommt vor, ist aber vergleichsweise selten und vom Volumen her gering. Die vom Innenministerium gegründete Task Force Sozialleistungsbetrug hat 2023 z.B. Fälle im Wert von 25,5 Mio. € aufgedeckt. Zum Vergleich: Steuerhinterziehung und -vermeidung verursachen Schäden in Milliardenhöhe – Schätzungen gehen von rund 2 Mrd. € jährlich in Österreich aus. Das heißt, jeder Euro Sozialbetrug steht Dutzenden Euro an hinterzogenem Steueraufkommen gegenüber. Dennoch richtet sich das politische Augenmerk überproportional stark auf Kontrolle der Ärmsten, während Steuertricks der Reichsten oft als Kavaliersdelikt gelten. Die überwältigende Mehrheit der Sozialleistungsbezieher verwendet die Gelder genau wofür sie gedacht sind: um grundlegende Bedürfnisse zu decken. Leistungen wie die bedarfsorientierte Mindestsicherung (Sozialhilfe) liegen zudem meist unterhalb der Armutsgrenze, sichern also nur ein Minimum. Sich damit „ein schönes Leben zu machen“ ist schlicht unrealistisch – die allermeisten kämpfen eher ums tägliche Auskommen als dass sie Luxus aus Sozialgeld genießen könnten.
  2. Mythos: „Die da unten müssten sich nur zusammenreißen und arbeiten – es gibt genug Jobs.“
    Behauptung: Wer wirklich will, findet Arbeit; Arbeitslose sind selber schuld, wenn sie keine Stelle haben, und vielen fehlt es einfach an Fleiß.
    Fakt: Dieses Vorurteil ignoriert die Realität am Arbeitsmarkt. Erstens gibt es nie für alle sofort gut bezahlte, existenzsichernde Jobs – schon gar nicht für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, ältere Arbeitnehmerinnen oder solche ohne abgeschlossene Ausbildung. Zweitens leisten viele Menschen enorme Mühen, um Arbeit zu finden oder zu behalten, und trotzdem reicht der Lohn nicht. Über 250.000 Erwerbstätige in Österreich sind armutsgefährdet – sie arbeiten, können aber vom Verdienst nicht leben. Das zeigt: Nicht die Menschen sind faul, sondern manche Arbeit wird schlicht zu schlecht entlohnt, um vor Armut zu schützen. Außerdem ist die Aussage „es gibt genug Jobs“ irreführend: Oft gibt es zwar offene Stellen, aber nicht jeder Arbeitslose passt auf jede Stelle (Stichwort Qualifikation, Region, Vereinbarkeit mit Betreuungspflichten). Untersuchungen belegen, dass Langzeitarbeitslose überwiegend engagiert nach Arbeit suchen; viele scheitern an Ablehnung nach Ablehnung, was zermürbt. Pauschal alle Arbeitssuchenden als arbeitsscheu abzustempeln, ist daher nicht nur unfair, sondern empirisch falsch.
  3. Mythos: „Integrationsverweigerer – Migrant*innen wollen sich nicht anpassen.“
    Behauptung: Zugewanderte (speziell aus muslimisch geprägten Ländern) hätten kein Interesse, sich in unsere Gesellschaft einzufügen; sie leben auf Kosten des Staates und lehnen unsere Werte ab.
    Fakt: Diese Pauschalverurteilung hält einer sachlichen Überprüfung nicht stand. Die Mehrheit der Migrant*innen ist gut integriert, besonders was Arbeit betrifft. In Österreich etwa ist die Beschäftigungsquote unter im Ausland Geborenen fast ebenso hoch wie unter Einheimischen – und im internationalen Vergleich schneidet Österreich hier gut ab. Probleme gibt es durchaus (etwa höhere Arbeitslosigkeit oder schlechtere Wohnsituation bei Migrantenhaushalten), aber die Ursachen liegen oft an strukturellen Hürden und Diskriminierung, nicht fehlendem Willen. Das Narrativ vom „Integrationsunwilligen“ blendet aus, dass Integration zweiseitig ist: Sie gelingt dort, wo Aufnahmegesellschaft und Zugewanderte aufeinander zugehen. Beispielsweise erlernen die meisten Migrantinnen selbstverständlich die Sprache und geben sie an ihre Kinder weiter; diese zweite Generation ist in vielen Bereichen bereits vollends Teil der Gesellschaft (oft mit besseren Bildungsabschlüssen als die Eltern). Fälle von Ablehnung hiesiger Werte sind die Ausnahme und werden medial aufgebauscht. Statistiken zeigen auch, dass ein großer Teil der Flüchtlinge binnen weniger Jahre erwerbstätig wird und sich integrieren möchte. Kurz: Die pauschale Behauptung, Migrantinnen wollten sich nicht integrieren, ist ein Scheinargument, das oft benutzt wird, um soziale Spannungen auf „fremde Kulturen“ zu schieben und von Problemen wie Arbeitslosigkeit oder Wohnungsmangel im Inland abzulenken.
  4. Mythos: „Die Armen sind selbst schuld, sie gehen schlecht mit Geld um.“
    Behauptung: Menschen in Armut bleiben arm, weil sie vermeintlich unvernünftig wirtschaften – etwa Geld für Zigaretten, Alkohol, teure Handys oder Markenkleidung ausgeben, statt zu sparen. Oft hört man Vorwürfe wie: „Wenn ‘die da unten’ weniger rauchen und nicht jedes Jahr ein neues Handy kaufen würden, ginge es ihnen besser.“
    Fakt: Dieses Argument ist klassisches Victim Blaming und hält Zahlen nicht stand. Studien zu Konsumausgaben zeigen, dass Haushalte mit niedrigem Einkommen den Großteil ihres Geldes für Grundbedürfnisse aufwenden: Miete, Energiekosten, Lebensmittel und Transport verschlingen einen viel höheren Anteil des Budgets als bei Besserverdienenden. Was als „Luxus“ kritisiert wird – ein Smartphone, ein TV-Gerät, mal Essen zum Mitnehmen – sind in Wahrheit heute normale Ausstattungen bzw. kleine Lebensfreuden, die sich fast jeder leistet. Ja, auch armutsbetroffene Menschen haben Smartphones – weil man ohne kaum mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann (Online-Bewerbungen, WhatsApp für soziale Kontakte etc.). Ein teures iPhone kauft sich von ihnen kaum jemand; meist sind es günstige Modelle. Rauchen oder Alkoholkonsum kommt in allen Schichten vor – bei Armutshaushalten mag es auffallen, weil die relative Belastung größer ist, aber die Ursachen von Armut liegen sicher nicht primär im Zigarettenkauf. Vielmehr gilt: Arm sein ist oft teurer, als reich zu sein. Wer kein Geld hat, kann nicht im Super-Sparpack einkaufen, sondern muss kleine Einheiten teuer bezahlen; wer in einer schlechten Wohngegend lebt, zahlt eventuell höhere Versicherungsprämien; wer kaputte Zähne hat und sich die Sanierung nicht leisten kann, hat später hohe Folgekosten. Armut ist ein Teufelskreis, aus dem man nicht einfach „herausspart“. Im Übrigen zeigen Untersuchungen, dass viele arme Menschen äußerst diszipliniert und kreativ haushalten, weil sie es müssen – da sitzt jeder Euro dreimal so fest wie bei jemandem mit dickem Polster. Das Vorurteil vom verschwenderischen Armen entbehrt also einer faktischen Grundlage und dient wieder nur dazu, die Verantwortung abzuschieben (nach dem Motto: „Wir brauchen nichts am System ändern, sie müssten nur sparsamer sein.“).

Diese und andere Mythen wollen wir in der Serie „Die Kleinen“ immer wieder aufgreifen und mit Gegenfakten konfrontieren. Wichtig ist dabei: Kein Mensch ist perfekt, und sicher gibt es in jeder Gruppe individuelle Verhaltensweisen, die man kritisieren könnte. Aber auf gesellschaftlicher Ebene sind es nicht Charaktermängel der Armen, die Ungleichheit verursachen, sondern Politik, Ökonomie und historische Entwicklungen. Darauf den Fokus zu lenken, ist Ziel unserer Artikel.

Wege der Veränderung: Was getan wird und werden kann

Angesichts der umfassenden Problemlage zum Schluss die hoffnungsvolle Frage: Gibt es auch positive Entwicklungen, Initiativen und Lichtblicke? – Ja, die gibt es. Strukturelle Ungleichheit mag zäh sein, doch sie ist nicht naturgegeben. Menschen haben sie geschaffen, Menschen können sie auch überwinden. Ein paar Beispiele für Ansätze und Fortschritte:

  • Politische Initiativen für mehr Verteilungsgerechtigkeit: In einigen Ländern wurden in den letzten Jahren Reichensteuern und Übergewinnabgaben eingeführt oder zumindest diskutiert. Etwa forderte Oxfam zuletzt eine progressive Vermögenssteuer (2 % ab 5 Mio. Dollar, 5 % ab Milliarde), um die pandemiebedingten Krisengewinne abzuschöpfen. Spanien beispielsweise erhob 2023 eine zeitweise Vermögensabgabe auf Multimillionäre. Auch die OECD-Mindeststeuer für Großkonzerne von 15 % ist ein Schritt, um Steuerflucht einzudämmen – wenn auch ein sehr bescheidener. Solche Maßnahmen zeigen: Das Problembewusstsein wächst, dass extreme Ungleichheit angegangen werden muss.
  • Stärkung des Sozialstaats und neue Sicherungssysteme: Einige Staaten experimentieren mit Grundsicherungsideen – z.B. startet 2023 in Wales ein Pilotprojekt für ein Grundeinkommen für Care-Leaver. Auch in Österreich gab es breite zivilgesellschaftliche Unterstützung für Modelle wie eine Kindergrundsicherung, um Kinderarmut zu bekämpfen. Während der Pandemie wurden Hilfsmechanismen geschaffen wie der Härtefallfonds oder der Wohnschirm in Wien, die zumindest temporär Schlimmeres verhinderten. Die Wiederentdeckung des Sozialstaats als Problemlöser ist in Europa deutlich spürbar – nach Jahren des Spardrucks erkennen viele, dass in Krisen doch nur staatliche Schutznetze zuverlässig helfen. Nun gilt es, diese Lehren auch dauerhaft in Politik zu gießen.
  • Initiativen für fairen Arbeitsmarkt: Auf EU-Ebene wurde 2022 eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne verabschiedet, die Mitgliedsländer verpflichtet, ihre Lohnuntergrenzen anzuheben oder mehr Menschen in Kollektivverträgen zu schützen. Zwar hat Österreich keinen gesetzlichen Mindestlohn, doch die Sozialpartner einigten sich vor einigen Jahren auf eine markante Erhöhung der KV-Mindestlöhne auf ~1.500 € (inzwischen ~1.700 € brutto). Zudem gewinnen Gewerkschaften wieder an Zulauf, gerade bei jungen Arbeitnehmer*innen, die genug haben von prekären Bedingungen. Beispiele wie die erfolgreichen Lohnabschlüsse in der Sozialwirtschaft oder bei den Eisenbahnern zeigen, dass kollektive Aktion sehr wohl etwas bewegen kann.
  • Wiener Wohnbau als Positivbeispiel: Schon erwähnt wurde Wiens lange Tradition im sozialen Wohnbau. Obwohl die Stadt auch Herausforderungen hat, gilt das dichte Netz an Gemeindebauten und geförderten Genossenschaftswohnungen als Grund, warum Wien im Unterschied zu vielen anderen Metropolen noch vergleichsweise moderate Mieten kennt und soziale Durchmischung in den Bezirken besser gelingt. Dieses Modell wird von anderen Städten (z.B. in Deutschland) zunehmend studiert und teils kopiert. Es beweist, dass öffentliche Handlungsfähigkeit – hier als Bauherr und Vermieter – direkt Lebensqualität für breite Schichten schafft.
  • Housing First und Sozialprojekte: Im Umgang mit Wohnungslosigkeit setzen Städte wie Helsinki, aber auch Wien und einige andere auf Housing-First-Programme. Anstatt Obdachlose durch lange Ketten von Notunterkünften und Prüfungen zu schicken, gibt man ihnen direkt eine Wohnung und betreuende Sozialarbeit. Das Ergebnis: nachhaltige Stabilisierung und deutliche Senkung der Obdachlosenzahlen – Helsinki hat damit fast funktional die Wohnungs­losigkeit beseitigt. Wien hat Projekte wie „Wohnchance“ laufen. Solche Ansätze nehmen Menschenwürde ernst und sparen langfristig sogar Kosten (weniger Gesundheits- und Polizeieinsätze).
  • Engagierte Zivilgesellschaft: Zahlreiche NGOs und Plattformen kämpfen in Österreich für die Interessen der „Kleinen“. Die Armutskonferenz – ein Bündnis aus über 40 sozialen Organisationen – erhebt regelmäßig die Stimme gegen Mythen und für bessere Rahmenbedingungen. Sie veröffentlichte etwa Dossiers wie „Mit Fakten gegen Mythen“, die empirisch viele Vorurteile zerlegen. Auch Organisationen wie die Volkshilfe, Caritas, das Momentum-Institut oder die AK liefern Studien, Beratung und Lobbying für mehr Gerechtigkeit. Bewegungen wie „Aufstehn“ oder „Fridays for Future“ verknüpfen soziale mit ökologischer Frage und mobilisieren vor allem junge Menschen. Dieses breite Engagement zeigt, dass viele in der Bevölkerung ein Unbehagen mit dem Status quo verspüren und bereit sind, sich für Änderungen einzusetzen.
  • Positive Beispiele im Kleinen: Manchmal sind es auch lokale Initiativen, die Mut machen. Etwa Food-Coops und Sozialmärkte, die Lebensmittel für Bedürftige erschwinglich machen und Verschwendung vermeiden. Oder Gemeinwohlökonomie-Projekte, bei denen Unternehmen nicht primär Gewinn, sondern gesellschaftlichen Nutzen anstreben. Es gibt Genossenschaften, die gemeinschaftliches Eigentum fördern, Mieterproteste, die erfolgreich gegen Luxusumbau und Verdrängung kämpfen, u.v.m. Jede solidarische Aktion, jedes kleine Projekt für mehr Gerechtigkeit ist ein Baustein, der zeigt: Es geht auch anders.

Natürlich bleiben all diese Ansätze oft Insellösungen, solange nicht der politische Wille zu grundsätzlichen Reformen da ist. Doch sie beweisen, dass kreative Lösungen möglich sind. Die Geschichte lehrt zudem, dass große Fortschritte – sei es die Einführung der Sozialversicherung, des Frauenwahlrechts oder 40-Stunden-Woche – erkämpft wurden, als genug Menschen Druck machten und Alternativen sichtbar waren.

Unser Ziel mit „Die Kleinen“ ist es, nicht in Pessimismus zu verfallen, sondern fundierte Daten und Narrative an die Hand zu geben, die Veränderung denkbar machen. Wir wollen zeigen, dass die Welt, Europa, Österreich und auch Wien schon einmal gerechter waren bzw. gemacht wurden – etwa in den Nachkriegsjahrzehnten, als hohe Steuern auf Spitzeneinkommen und starker Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu historisch geringer Ungleichheit führten. Diese Errungenschaften sind kein naiver Traum, sondern Teil unserer eigenen Geschichte. Zugleich blicken wir nach vorn: Positive Gegenbeispiele und neue Ideen sollen Hoffnung geben, dass ein Kurswechsel möglich ist.

Persönliche Note zum Abschluss

Diese Einleitung wäre unvollständig ohne eine persönliche, essayistische Note. Denn hinter all den Zahlen stehen Menschen und Geschichten. Vielleicht kennen Sie – die Leser*innen – selbst jemanden, der zu den „Kleinen“ zählt. Vielleicht sind Sie selbst in einer schwierigen Lage, haben prekär gearbeitet, eine Zeit lang von wenig Geld leben müssen oder Diskriminierung erlebt. Dann wissen Sie, dass es oftmals nicht an fehlendem Willen oder Einsatz mangelt, sondern dass man gegen strukturelle Wände rennt.

Beim Schreiben dieser Zeilen denke ich an den Herrn in meiner Nachbarschaft, der jeden Morgen um 5 Uhr aufsteht, um zwei Jobs zu erledigen, und dem trotzdem am Monatsende kaum etwas bleibt. Ich denke an die alleinerziehende Mutter einer Schulfreundin meiner Tochter, die sich redlich bemüht, Job und Kinder unter einen Hut zu bekommen, und der doch ständig Steine in den Weg gelegt werden – seien es zu teure Mieten oder Betreuungsplätze, die nicht reichen. Und ich denke an die Jugendlichen, die jeden Freitag für Klimagerechtigkeit demonstrieren, weil sie instinktiv spüren, dass die aktuellen Ungleichheiten nicht nachhaltig sind. Diese Menschen verdienen Gehör.

Die Serie „Die Kleinen“ möchte ihre Perspektiven ins Zentrum rücken. Es geht darum, Empathie zu schaffen, wo oft Vorurteil herrscht, und Zusammenhänge aufzuzeigen, wo oft vereinfacht wird. Wir werden fundierte Daten aus Berichten wie dem World Inequality Report, Studien der OECD, von Statistik Austria, WIFO und anderen heranziehen, um unsere Analysen zu untermauern. Doch ebenso wollen wir Geschichten erzählen – Geschichten, die greifbar machen, was es heißt, in einer ungerechten Struktur zu leben, aber auch was es bedeutet, gemeinsam für Veränderung zu kämpfen.

Eines sollte am Ende dieser Einleitung klar geworden sein: Die Frage der Ungleichheit geht uns alle an. „Die Kleinen“ – das sind nicht irgendwelche Anderen, das sind wir als Gesellschaft. Wenn wir zulassen, dass das Band der Solidarität reißt, verlieren letztlich alle, außer einer winzigen Elite. Umgekehrt gewinnen wir alle, wenn mehr Gerechtigkeit Einzug hält: soziale Sicherheit schafft Frieden, geringere Kluften fördern den Zusammenhalt, Investitionen in die Schwächsten kommen langfristig der gesamten Gemeinschaft zugute.

In den kommenden Teilen der Serie werden wir daher tiefer eintauchen – in die Lebenswelten der Kleinen, in die Mechanismen der Macht und auch in die Ideen für eine bessere Zukunft. Denn wie der französische Ökonom Thomas Piketty sagt: Ungleichheit ist weder zufällig noch unveränderbar – sie ist ein politisches Produkt. Machen wir uns also gemeinsam auf, dieses Produkt zu analysieren und zu hinterfragen.

Quellen: World Inequality Report 2022; World Inequality Lab (Chancel 2022); Oxfam „Survival of the Richest“ 2023; Statistik Austria – Armut in Österreich 2024; Armutskonferenz/AK Daten zu Vermögensverteilung sowie Momentum Institut 2024; ORF Ö1 Bericht „Arbeiter von Wien“; Volkshilfe Wien Wohnbericht 2024; WIFO-Studie zur Integration; BMI Task Force Bericht 2023; Kontrast Steuerflucht-Interview 2024; Caritas/Statistik Austria Daten Alleinerziehende; etc. (Details und weitere Belege folgen in den spezifischen Artikeln der Serie).