Gedanken zwischen Moral, System und innerer Zerrissenheit
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Es fällt mir zunehmend schwer, mich in der Welt zurechtzufinden. Nicht, weil ich sie nicht verstehen könnte – im Gegenteil: Vielleicht verstehe ich sie sogar zu gut.
Seit ich mich näher mit Erich Fromm auseinandergesetzt habe, insbesondere mit seinen Überlegungen zur „Kunst des Lebens“, habe ich begonnen, die Strukturen,
die Dynamiken und auch die tief verwurzelten Mechanismen unserer Gesellschaft immer klarer zu sehen. Doch je deutlicher dieses Bild wird, desto stärker
empfinde ich eine innere Unruhe, eine Art Dissonanz zwischen dem, was ich als moralisch und ethisch richtig empfinde, und dem, was ich tagtäglich um mich herum beobachte.
Fromm zeigt in seinen Werken sehr deutlich auf, dass wir Menschen nicht einfach isolierte Individuen sind, sondern Produkte unserer sozialen Umwelt. Sein Konzept des Gesellschaftscharakters erklärt, wie wir im Laufe der Zeit psychische Strukturen entwickeln, die dazu dienen, gesellschaftliche Erwartungen und Normen zu erfüllen. Diese Strukturen beeinflussen maßgeblich, wie wir denken, handeln und fühlen – oft ohne dass uns dies bewusst ist. Doch genau hier liegt das Problem: Unsere Gesellschaft prägt uns in eine Richtung, die immer stärker auf materielle Werte, Wettbewerb und den Drang nach Anerkennung ausgerichtet ist. Fromm beschrieb dies als den „Haben-Modus“, eine Existenzweise, in der Menschen ihren Wert primär über Besitz, Leistung und Konsum definieren. Historisch betrachtet ist dieser Modus keineswegs neu. Seit der industriellen Revolution, spätestens aber seit der Zeit der Aufklärung, versuchen wir Menschen unsere Leistung immer weiter zu steigern – immer effizienter, immer produktiver zu werden. Dieses Prinzip der Leistungssteigerung zeigt sich besonders anschaulich im Mooreschen Gesetz, das seit Mitte des 20. Jahrhunderts die exponentielle Entwicklung der Computertechnologie beschreibt. Doch während die technische Leistung exponentiell zunimmt, scheinen menschliche Empathie, soziale Verantwortung und echte Gemeinschaft zunehmend verloren zu gehen. Unsere Gesellschaft, die sich auf den Idealen der Philosophie von Denkern wie Locke und Rousseau sowie auf den psychologischen Erkenntnissen Freuds gründet, verliert sich heute immer mehr in einem mechanischen Funktionieren, das wenig Raum für wahre Individualität und authentische zwischenmenschliche Beziehungen lässt.
Was mich am stärksten bewegt, ist jedoch, wie schwer es für mich selbst ist, einfach „mitzumachen“ und Teil dieser scheinbar so normalisierten Struktur zu sein. Es fällt mir unglaublich schwer, innerlich abzuschalten, während ich weiß, dass unsere Gesellschaft in so vielen Aspekten in eine falsche Richtung läuft. Als introvertierter Mensch ist es noch schwieriger, aktiv Veränderungen anzustoßen oder laut genug zu werden, um gehört zu werden. So fühle ich mich gefangen zwischen dem Bedürfnis, moralisch richtig zu handeln und einem System, das genau dies kaum ermöglicht.
Erich Fromm – Der Gesellschaftspsychologe mit dem Blick für das Menschliche
Erich Fromm war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker, Soziologe und Humanist, der wie kaum ein anderer versuchte, den Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Freiheit, Angst und gesellschaftlicher Prägung zu verstehen. Als Kind seiner Zeit – geprägt vom Zweiten Weltkrieg, dem Aufstieg des Nationalsozialismus und der Entmenschlichung moderner Industriegesellschaften – stellte er sich eine zentrale Frage: Was macht ein gesundes, menschliches Leben in einer krank gewordenen Gesellschaft aus? Fromm vereinte tiefenpsychologische Erkenntnisse Freuds mit marxistischer Gesellschaftskritik und entwickelte daraus eine eigene Sichtweise, die den Menschen nicht nur als Individuum, sondern als soziales Wesen verstand – eingebettet in Strukturen, die sein Denken, Fühlen und Handeln formen. Seine Hauptunterscheidung zwischen dem Haben-Modus und dem Sein-Modus wurde zu einem Schlüsselbegriff seiner Philosophie: Während der Haben-Modus auf Konsum, Besitz und Status basiert, strebt der Sein-Modus nach Lebendigkeit, Verbundenheit und schöpferischer Entfaltung.Was Fromm besonders macht – und ihn auch von anderen kritischen Denkern unterscheidet – ist seine tiefe Hoffnung auf Veränderbarkeit. Während viele Philosophen die Entfremdung des modernen Menschen lediglich diagnostizieren, geht Fromm einen Schritt weiter: Er glaubt an die Möglichkeit der Heilung durch Bewusstwerdung, Bildung, Liebe und echte Begegnung. Damit wird er nicht zum Zyniker, sondern zum Wegweiser – einem, der trotz aller Kritik an den bestehenden Verhältnissen nie den Glauben an das Menschliche verliert. Diese Haltung ist es, die ihn auch heute noch zu einem relevanten Begleiter macht – besonders für jene, die sich zwischen Idealismus und Realität, zwischen Anpassung und Integrität wiederfinden.
Ein anderer, der diese Spannung auf radikalere Weise durchlebte, war Friedrich Nietzsche – dessen Kritik an der Moral und dem modernen Menschen auf eine andere, aber nicht minder eindrucksvolle Weise deutlich macht, wie tief die Krise des Selbst in unserer Zeit reicht…
Foto: © Liss Goldring / Literary Fromm Estate
Wie Maschienen uns das Leben Diktieren und nicht helfen
Die Entwicklung von Maschinen und Technologien versprach ursprünglich vor allem eines: Erleichterung. Beginnend mit der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, als die Dampfmaschine menschliche Muskelkraft ersetzte, nahm der technische Fortschritt seinen Lauf und revolutionierte sowohl Arbeitswelt als auch Alltag grundlegend. Was früher mühevolle körperliche Arbeit war, wurde zunehmend von Maschinen übernommen – zuerst in Fabriken, später in nahezu allen Bereichen des Lebens. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich diese Entwicklung mit dem Taylorismus fort, einer Methode zur strikten Effizienzsteigerung und Arbeitsoptimierung, bei der Arbeiter zunehmend zu kleinen Zahnrädern in einer maschinellen Struktur wurden. Das Fließband von Henry Ford zeigte exemplarisch, wie Technik nicht nur Produktion, sondern auch Gesellschaft neu ordnete: klar definierte Rollen, schnelle Abläufe, weniger Individualität. Diese Dynamik erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt in der digitalen Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts. Durch das Mooresche Gesetz – die Beobachtung, dass sich die Rechenleistung von Computern ungefähr alle zwei Jahre verdoppelt – wurde die technologische Entwicklung exponentiell vorangetrieben. Plötzlich waren Maschinen nicht nur Hilfsmittel, sondern unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens: Smartphones, Computer, KI-Systeme. Doch obwohl Technik uns auf den ersten Blick unglaubliche Möglichkeiten eröffnet – Kommunikation in Echtzeit, scheinbar unbegrenzter Zugang zu Informationen und enorme Steigerungen der Produktivität –, haben wir gleichzeitig etwas Entscheidendes verloren: Autonomie. Maschinen strukturieren unseren Alltag, sie definieren Arbeitszeiten, Abläufe, Kommunikation. Algorithmen bestimmen, was wir konsumieren, wen wir kennenlernen, was wir glauben. Damit einher geht ein entscheidender Effekt, der meist erst auf den zweiten Blick sichtbar wird: Die Gesellschaft hat einen „Deckel“. Trotz aller technischen Errungenschaften stoßen wir immer wieder an Grenzen, die nicht technisch, sondern strukturell bedingt sind. Maschinen erleichtern Abläufe, sorgen aber auch dafür, dass individuelle Entwicklung zunehmend standardisiert und kanalisiert wird. Sie erzeugen Erwartungshaltungen und Normen, an die sich Menschen anpassen müssen, wenn sie Teil des Systems bleiben wollen. Wer nicht hineinpasst, bleibt außen vor. Die versprochene Erleichterung entpuppt sich so als versteckte Kontrolle. Statt uns zu befreien, machen Maschinen uns zu Dienern einer Effizienz, deren Vorteile längst nicht gleichmäßig verteilt sind.
Warum unsere Gesellschaft anders tickt, als sie sollte
Unsere Gesellschaft funktioniert nicht so, wie es eigentlich angemessen wäre – nicht menschlich, nicht gerecht und schon gar nicht solidarisch. Stattdessen bevorzugt sie ganz gezielt jene, die bereits Einfluss und Macht besitzen: moderne „Landherren“ und Geschäftsleute, die von Strukturen profitieren, die bewusst oder unbewusst etabliert wurden. Ein komplexes System aus subtilen und offenen Mechanismen sorgt dafür, dass Macht, Einfluss und Ressourcen stetig nach oben fließen, während die Mehrheit der Menschen kaum die Chance hat, wirklich davon zu profitieren. Der Kapitalismus verspricht uns Freiheit und Wohlstand, doch in Wirklichkeit werden wir oft eher wie Vieh gehalten – verwaltet, manipuliert und kontrolliert.
Dabei ist Manipulation keine Randerscheinung, sondern integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Systems. Vom Marketing, das uns täglich suggeriert, was wir brauchen und wer wir sein sollten, bis hin zu spezialisierten Techniken in der Soziologie und Psychologie, die gezielt eingesetzt werden, um Meinungen und Verhalten zu steuern – alles dient dazu, Machtverhältnisse zu sichern und auszubauen. Es gibt regelrechte Schulungen und Fortbildungen, die darauf ausgerichtet sind, Menschen gezielt von einem Produkt, einer politischen Meinung oder einer Weltsicht zu überzeugen. Diese manipulativen Mechanismen reichen von simplen Verkaufsstrategien bis hin zu tiefgreifenden psychologischen Methoden, die Peter Dern in seinem Buch „Clever durchs Leben: Die Geheimnisse des klugen Denkens und Handelns“ anschaulich beschreibt. Dort wird klar, wie Wissen über menschliches Verhalten dazu eingesetzt wird, Menschen klein zu halten, sie passiv zu machen und ihnen gleichzeitig das Gefühl zu vermitteln, freiwillig und autonom zu handeln.
Die Folgen sind verheerend: Wir leben zunehmend separiert voneinander, aufgeteilt in Gruppen, Schichten und Klassen, wobei diejenigen, die bereits oben stehen, alles dafür tun, dass dies so bleibt. Menschen werden gegeneinander ausgespielt, anstatt echte Solidarität aufzubauen. Wir verlieren uns in endlosen Konsumzyklen, oberflächlichen Statussymbolen und einem ewigen Streben nach Anerkennung, während die tatsächliche Macht bei wenigen verbleibt, die wissen, wie das Spiel funktioniert. Statt eine Gesellschaft echter Teilhabe zu bilden, werden wir fragmentiert und voneinander getrennt – jeder in seiner Blase, seiner sozialen Rolle, seiner Funktion im großen wirtschaftlichen und sozialen Gefüge. Genau deshalb tickt unsere Gesellschaft anders, als sie es eigentlich sollte.
Gefangen im System – Warum ich nicht einfach abschalten kann
Von der inneren Überzeugung zum äußeren Handeln – Ein persönlicher Konflikt